Uniklinikum

Gastkommentar: Gravierende Einschränkungen in der Versorgung

Der Mangel an Pflegepersonal lässt das Gesundheitssystem in zentralen Bereichen gegen die Wand fahren. Nur Wahrheit und Transparenz führen aus der Krise. Ein Gastbeitrag von Hellmut Samonigg, Rektor der Med Uni Graz in der KLEINEN ZEITUNG vom 09. Juli 2022.


Priorisierung von Patienten ist bereits jetzt notwendig

Mangels Pflegepersonal fehlt für die Versorgung von Patienten mit schweren und schwersten Erkrankungen am LKH-Universitätsklinikum Graz eine zunehmende Anzahl an Akutbetten (zuletzt nahezu 200). Dadurch bestehen im zweitgrößten Zentralspital Österreichs neben gravierenden Einschränkungen der medizinischen Versorgungskapazität auch schwerwiegende negative Auswirkungen auf das gesamte medizinische Personal. Die jahrelang vorherrschende, quantitativ nicht ausreichende Ausbildung von Nachwuchskräften im Pflegebereich ist die Hauptursache für diese besorgniserregende Situation. Die zuletzt erfolgte Erhöhung der Ausbildungsplätze für Pflegepersonal in der Steiermark entfaltet frühestens in drei Jahren ihre Wirksamkeit.

Damit stehen die jetzt Verantwortlichen vor nahezu unlösbaren Aufgaben und benötigen breite Unterstützung.

Dieser medizinische Versorgungsengpass weitet sich in den peripheren Spitälern der Steiermark zusätzlich aus, da junge Ärzte zunehmend weniger bereit sind, dort unter den bestehenden Arbeitsbedingungen tätig zu sein und immer öfter auch langjährige Mitarbeiter aus denselben Gründen ihrem bisherigen Arbeitsplatz den Rücken kehren.

Was aber sind am LKH-Univ. Klinikum Graz konkret die bereits bestehenden (bzw. unmittelbar bevorstehenden) Auswirkungen der Bettensperren auf die medizinische Versorgung von Patienten, auf die Situation des medizinischen Personals sowie auf die universitären Aufgaben der studentischen Lehre, Ausbildung und Forschung?

Intern ist längst bekannt, dass die Behandlungsmöglichkeiten in gewissen medizinischen Bereichen bereits substanziell eingeschränkt sind. Insbesondere Behandlungen, die aufgrund der erforderlichen besonderen Spezialisierung nur im LKH-Univ. Klinikum Graz (als "Letztversorger") durchgeführt werden können, sind schon jetzt nicht mehr vollumfänglich möglich.


Bevorstehende Folgen

Folgenschwere negative Auswirkungen auf die medizinische Versorgung in einzelnen Fachbereichen (z.B. die Behandlung von Neugeborenen, von Krebspatienten, von Herz- und Nierenpatienten sowie urologischen Patienten) sind teilweise bereits eingetreten beziehungsweise stehen unmittelbar bevor.

Schon jetzt können einzelne Behandlungen nur zeitlich verzögert angeboten werden, lange Wartelisten mit den entsprechenden gesundheitlichen Auswirkungen sind die Folge. Sollten etwa notwendige Operationen aufgrund bestehenden Bettenmangels nicht zeitgerecht durchgeführt werden können, so besteht z.B. bei Krebserkrankungen das Risiko, dass diese mangels zeitgerechter Behandlung sich in ein viel schwieriges bzw. im schlimmsten Fall nicht mehr behandelbares Stadium entwickeln.

Vereinzelt ist das medizinische Akutversorgungssystem im größten Spital der Steiermark bereits gekippt. Wiederholte kurzzeitige Sperren der internistischen und neurologischen Notaufnahme wegen fehlender Betten bei gleichzeitig hohem Patientenaufkommen waren unausweichlich.

Das gefürchtete Szenario der notwendigen Priorisierung medizinischer Hilfestellung aufgrund unzureichender Ressourcen ist bereits eingetreten.

Die bestehenden Bettenschließungen bei gleichzeitig hohem Patientenaufkommen haben darüber hinaus auch gravierende Auswirkungen auf das medizinische Personal aller Berufsgruppen: Die Abwicklung medizinischer Maßnahmen muss unter erhöhtem Zeitdruck erfolgen, mit dadurch drohender Einschränkung der Behandlungsqualität und erhöhtem Fehlerrisiko. Kontinuierliche Überlastung (physisch sowie psychisch) ist die Folge. Für jede Ärztin, für jeden Pflegenden stellt es eine besondere psychische Belastung dar, Patienten, die medizinische Hilfe benötigen, aufgrund eingeschränkter Ressourcen (Bettenmangel) nicht adäquat helfen zu können.


Aggressives Verhalten

Das Unverständnis von Patienten und Angehörigen für die bestehende Mangelsituation führt immer häufiger zu aggressivem Verhalten. Pflegende denken mehr denn je daran, aus dem System auszusteigen. Diese gefährliche Spirale "nach unten" ist nicht gestoppt und droht im LKH-Univ. Klinikum auch die Ärzte mitzuerfassen.

Zu den weiteren negativen Auswirkungen des Versorgungsengpasses durch Bettenmangel zählen die Einschränkungen der wichtigen fachärztlichen Ausbildung, der studentischen Lehre sowie der klinischen Wissenschaft. Nicht zuletzt verstärkt sich die "Zwei-Klassen-Medizin", denn wer es sich leisten kann, geht nach Möglichkeit ins Sanatorium.

Warum aber schweigen nahezu alle zur wahren Dimension des Problems?

Eine mögliche Erklärung ist, dass mittlerweile der medizinische Versorgungsengpass so schwerwiegend ist, dass man die Fakten der Bevölkerung nicht zumuten möchte. Es fehlt der Mut, das tatsächliche Ausmaß der gravierenden Versorgungsprobleme offen und ehrlich zu kommunizieren. Die Angst vor negativen Reaktionen von Betroffenen und der breiten Öffentlichkeit steht im Vordergrund.

Dennoch, es führt kein Weg daran vorbei, sich der Realität zu stellen und den Menschen in entsprechender Art und Weise die Wahrheit zu sagen.

Denn eine schonungslose, wahrheitsgemäße Bestandsaufnahme ist die Basis, um konkrete Lösungsvorschläge zu erarbeiten und auch entsprechend zu kommunizieren. Denn nur dadurch kann es gelingen, bei der Bevölkerung das Verständnis für auftretende Unannehmlichkeiten zu gewinnen und das Vertrauen in das insgesamt exzellente Gesundheitssystem unseres Landes nicht zu verlieren. Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar!


Das Gebot der Stunde

Auch für die medizinischen Mitarbeiter ist die offene, wahrheitsgemäße Darstellung des tatsächlichen Ausmaßes der bestehenden Probleme die Grundlage, um sich in ihrer Arbeit ernst genommen und wertgeschätzt zu fühlen.

Was ist das Gebot der Stunde? Ein nachhaltiger Notfallplan.

Wir stecken mitten in einer veritablen Krise in zentralen Anteilen des Gesundheitssystems, die voraussichtlich die nächsten Jahre anhalten wird.

Es ist nicht die Zeit, nach allfälligen (Ver)Ursache(r)n zu fahnden, sondern vielmehr alle Kräfte zu bündeln und mutig, tabulos und sehr rasch dringend erforderliche strukturelle und organisatorische Schritte zu setzen, um dieser Krise effektiv zu begegnen.

Oberste Prämisse muss es sein: Unter Zugrundelegung eines "Notfallplans" die verfügbaren Ressourcen zu konzentrieren, um in einem nach Dringlichkeit und Bedrohlichkeit der Krankheiten abgestuften Versorgungskonzept in dem hierfür jeweils bestgeeigneten Ort die Patientenbehandlung auf möglichst hohem Niveau für die Menschen der Steiermark sicherzustellen.

Die sich hierdurch ergebenden möglichen Unannehmlichkeiten für Patienten, nicht immer im nächstgelegenen Spital behandelt werden zu können, sind der Preis, um Behandlungssicherheit für möglichst viele Menschen zu gewährleisten.


Keine kontraproduktiven Einflussnahmen

Lokalpolitische Überlegungen und kontraproduktive Einflussnahmen dürfen in einer Krise wie dieser, in der es schlussendlich um Menschenleben geht, keinen Platz haben!

Weiters müssen die in dieser Krise außergewöhnlich geforderten Mitarbeiter im Gesundheitsbereich im Zentrum akut umzusetzender Maßnahmen stehen. Dringend müssen Schritte gesetzt werden, um einer weiteren Mitarbeiterresignation entgegenzuwirken, aber auch, um in besonders dringlich zu besetzenden Bereichen attraktivere Arbeitsbedingungen zu gewährleisten.

Hierbei dürfen Gehaltserhöhungen, Prämien für besonders belastende Pflegetätigkeit, finanzielle Attraktivierung eines allfälligen Arbeitsplatzwechsels etc. keine Tabuthemen sein.

Adäquate Rahmenbedingungen vorausgesetzt, sind es schlussendlich unsere im Gesundheitsbereich tätigen Mitarbeiter, die den schwer beschädigten "Gesundheitskarren" aus dem Treibsand ziehen (müssen).

Textnachweis: Hellmut Samonigg, KLEINE ZEITUNG vom 09. Juli 2022