Österreich liegt mit knapp 100 000 Osteoporose-bedingten Knochenbrüchen jährlich im weltweiten Spitzenfeld. Der aus sozioökonomischer Sicht bedeutendste Knochenbruch ist hierbei jener des Oberschenkels im hüftgelenksnahen Bereich, häufig – aber anatomisch nicht ganz korrekt – auch als Hüftfraktur oder Schenkelhalsbruch bezeichnet. Die Sterblichkeit im ersten Jahr nach einem derartigen Knochenbruch beträgt rund 20 % und das Risiko eines nachfolgenden Knochenbruchs, wie zum Beispiel jenes von Wirbelkörpern, ist um ein Vielfaches erhöht. Für Österreich ist davon auszugehen, dass die Häufigkeit osteoporotischer Knochenbrüche aufgrund der Entwicklung der Altersstruktur weiter zunehmen wird, auch wenn sich die Hüftfrakturhäufigkeit zumindest bei Frauen in den letzten Jahren zu stabilisieren scheint. Eine aktuelle Arbeit von Hans Peter Dimai von der Klinischen Abteilung für Endokrinologie und Diabetologie der Med Uni Graz konnte ein Modell entwickeln, das Ärzt*innen bei der Entscheidung, wann eine Osteoporosebehandlung eingeleitet werden soll, unterstützt.
Eine Frage des Zeitpunkts
Eine der größten Herausforderungen in der ärztlichen Praxis liegt darin, zum richtigen Zeitpunkt der richtigen Person die richtige Osteoporosebehandlung zu verordnen. Die Entscheidungsfindung wird erheblich dadurch erschwert, dass es unter den maßgeblichen wissenschaftlichen Gesellschaften weltweit wenig Konsens gibt, ab welchem Knochenbruchrisiko eine Osteoporose-spezifische Behandlung eingeleitet werden sollte. Ausgenommen hiervon sind lediglich jene Personen, die bereits einen osteoporotischen Knochenbruch erlitten haben. Das Risiko für Folgebrüche ist bei diesen Patient*innen so hoch, dass in jedem Fall eine solche Therapie empfohlen wird. Weniger klar ist die Entscheidungsfindung bei jenen Personen, die bereits Risikofaktoren für Knochenbrüche aufweisen, aber noch keinen Knochenbruch erlitten haben.
Drei Gründe für die Probleme
Drei Gründe sind hier für die Schwierigkeiten im Rahmen der Entscheidungsfindung ausschlaggebend: Erstens, das Knochenbruchrisiko ist von Land zu Land sehr unterschiedlich. So beträgt zum Beispiel das Hüftfrakturrisiko der kroatischen Bevölkerung nur einen Bruchteil des Risikos der österreichischen Bevölkerung, wofür in erster Linie genetische Faktoren ausschlaggebend sind. Zweitens, es gibt unterschiedliche (Online-)Werkzeuge, mit denen in der Praxis das individuelle 10-Jahres-Knochenbruchrisiko erfasst werden kann, aber nur ein einziges, welches das Knochenbruchrisiko und die Sterblichkeit der österreichischen Bevölkerung berücksichtigt (das sog. FRAX®-Tool). Drittens, selbst wenn mit dem FRAX®-Tool das individuelle Knochenbruchrisiko errechnet wurde, konnte bislang daraus nicht automatisch abgeleitet werden, ob eine Osteoporose-spezifische Behandlung eingeleitet werden sollte oder nicht.
Abhilfe in greifbarer Nähe
In der aktuellen Arbeit von Hans Peter Dimai von der Klinischen Abteilung für Endokrinologie und Diabetologie der Med Uni Graz konnte nun gemeinsam mit Expert*innen aus Großbritannien, Schweden und Österreich ein Modell entwickelt werden, das es den österreichischen Ärzt*innen ermöglicht, unter Verwendung der österreichischen Version des FRAX®-Tools zu entscheiden, ob ein*e Patient*in eine Osteoporose-spezifische Behandlung benötigt oder nicht. Darüber hinaus wird auch zwischen Patient*innen mit „hohem“ und solchen mit „sehr hohem“ Knochenbruchrisiko unterschieden. Dies ist insofern von großer Bedeutung, als Patient*innen mit „sehr hohem“ Knochenbruchrisiko stärker von einer Behandlung profitieren, da diese rascher ihre Wirkung entfaltet, eine echte Knochenneubildung ermöglicht (die sog. osteo-anabole Wirkung) und eine ausgeprägtere Senkung des Knochenbruchrisikos bewirkt. Unterstützt wird der ärztliche Entscheidungsprozess durch eine farbcodierte, einfach zu interpretierende grafische Darstellung der einzelnen Risikokategorien sowie der altersentsprechenden Behandlungsschwellen. Aufgrund der Einfachheit der Erfassung des Knochenbruchrisikos und der anschließenden Platzierung dieses Risikos auf der farbcodierten Grafik kann de facto auch jede*r Patient*in selbst prüfen, ob eine Behandlungsnotwendigkeit vorliegt. Das neu entwickelte Entscheidungshilfe-Tool soll als Basis für die österreichischen Osteoporoseleitlinien dienen, die nun von der Österreichischen Gesellschaft für Knochen und Mineralstoffwechsel (ÖGKM) entsprechend überarbeitet werden.
Steckbrief Hans Peter Dimai:
Hans Peter Dimai ist Endokrinologe sowie Experte für Erkrankungen des Knochenstoffwechsels mit Fokus auf der Osteoporose. Er war unter anderem wiederholt Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Knochen- und Mineralstoffwechsel und ist auch international in den höchsten Gremien dieses Spezialgebietes tätig.